18. Mai 2012

Bericht im Mai über die vergangenen vier Monate

Einen Bericht zu schreiben ist nie leicht. Aber dieses Mal fällt es mir besonders schwer. Wie soll ich diese glitzernde, schillernde und formlose Erinnerungswolke über meinem Kopf in einen kompakten Text in zeitlich-logischer Reihenfolge packen? Ein Versuch:

Im Januar nach den Ferien kommt bei meiner Arbeit alles zunächst nur schleppend wieder in Gang. Die Schulen und Kindergärten sortieren sich nur sehr langsam, und es gibt daher im Museum so gut wie keine Besuche. Ich bin frustriert, dass ich mit den Ecochiquis nicht anfangen kann.

Dafür geht es mir in meiner freien Zeit besser als je zuvor. Gaby und Nico kommen nach ihrem zweimonatigen Aufenthalt aus Deutschland zurück, beladen mit Fotos und vielen Geschichten. Und dann gibt es da noch das große Konzert der Masis im Teatro Gran Mariscal, wo die Masis mit ihrer Kindergruppe mit Musik, Tanz und Trachten verzaubern.

Außerdem fange ich Anfang Februar an Tango zu tanzen, im ICBA. Ich verliebe mich halsüberkopf in die melancholische Musik und die Bewegungen. Das Tanzen gibt mir als Ausgleich zu der stark beanspruchenden Arbeit Halt und stärkt mein Selbstwertgefühl. Langsam wachse ich in die Tanzgruppe hinein und finde unglaublich liebenswerte Freunde, die mich für bisher unbekannte Musik, Literatur und Gespräche begeistern. Es folgen unzählige Milonganächte – mit Tango durchtanzt und von Rotwein und einem starken Gemeinschaftsgefühl gesüßt.

Eine Unterbrechung meines Alltags und wichtiger Bestandteil meines Freiwilligendienstes steht Mitte Februar auf dem Programm: die Zwischenauswertung durch meine Entsendeorganisation. Ich lerne Susanna Kersting-Kuhn kennen, die die Auswertung sehr professionell und sehr angenehm zugleich durchführt. Ich hoffe auf neue Impulse für meinen Freiwilligendienst.

Wenig später erreicht mich die Nachricht, dass es in meinem Projekt zunächst keinen Nachfolger geben wird. Obwohl ich mich im ersten Moment hilflos und unglücklich mit dieser Entscheidung der Bolivien-Brücke fühle, kann ich sie nach mehreren intensiven Gesprächen mit meiner Gastmutter nachvollziehen, denn: es kann nicht Aufgabe eines Freiwilligen sein, sein Projekt zu leiten.

Ende Februar dann ein Ausflug der Extraklasse: in Oruro erlebe ich mit Daria und Selma einen sagenhaften Karneval, der mich mit unglaublich vielen Bildern und unglaublich durchnässt zurücklässt. Oruro selbst wirkt auf mich wie ein riesiges Dorf in recht feindlicher Landschaft. Trotzdem scheint auf den Straßen vor uns die Lebensfreude in Tänzen für die Virgen de Socavon* zu explodieren. Was für ein Ausnahmezustand! *(Jungfrau Maria vom Stolleneingang)

Zurück in Sucre, folgt gleich die nächste Feier. Gemeinsam mit meinen beiden Freundinnen María und Rocío bin ich Gast einer Hochzeit. Die Hochzeit dauert zwei Tage: Am ersten Tag abends findet die Trauung statt, an die sich eine große Feier anschließt. Für jeden „Bestandteil“ der Feier gibt es eine eigene Patin oder einen eigenen Paten. Zum Beispiel Paten der Hochzeitstorte, der Musik, der Getränke, der Videokamera, des Tanzes, und, und, und. Am zweiten Tag werden die Geschenke überreicht, das Brautpaar bekommt die komplette Inneneinrichtung für ihre neue Wohnung geschenkt. Immer wieder wird das Brautpaar während der Feierlichkeiten gesegnet: mit Alkohol und Konfetti.

Nachdem der Kater des Karnevals endlich überwunden ist, lege ich bei meiner Arbeit wieder richtig los. Beinahe jeden Nachmittag eilen José Luis und ich zu nahe und fern gelegenen Schulen und laden die Lehrer ein, das Museum zu besuchen. Zunächst ist die Resonanz nicht groß, doch schon bald können wir uns vor Besuchen kaum retten. Ein Colegio schickt sogar die komplette Schülerschar.

Gleichzeitig läuft das Kindergartenprojekt immer noch nicht gut an. Ich bin frustriert, dass meine Termine mit der Direktion des Kindergartens wieder und wieder platzen.

In den folgenden Wochen konzentriere ich mich besonders auf meine Arbeit, während Tango nebenher läuft und ich auch damit anfange Gitarre zu spielen – allerdings bringen die Unterrichtsstunden in einer privaten Musikschule wenig. Ich gehe nur unregelmäßig zum Unterricht.

Je näher das Ende des Monats März rückt, desto ungeduldiger werde ich. Am 23. März hole ich meine Schwester Franzi am Flughafen in Santa Cruz ab. Die vergangenen Monate scheinen wie ausgelöscht, ich bin einfach nur glücklich.

In den folgenden drei Wochen reisen wir nach Sucre, Oruro, La Paz, zum Titicacasee und Tiwanaku, wir wandern nach Coroico und schließlich verabschieden wir uns am 14. April in Santa Cruz am Flughafen. Die drei Wochen der Reise haben mir Vieles gezeigt: wie vielfältig und unentdeckt Bolivien immer noch für mich ist, wie anstrengend es sein kann, ruhelos umherzuziehen und nirgendwo richtig Wurzeln schlagen zu können, wie wunderschön und wichtig es ist, Zeit mit meiner Schwester zu verbringen, wie schwer die Last der Verantwortung für zwei sein kann. All das vermischt sich mit so vielen Einzelerinnerungsfetzen zu einer unvergesslichen Reise.

Als ich wieder zurück nach Sucre komme, bin ich leicht neben der Spur. Die Rückkehr nach Deutschland scheint durch den Besuch meiner Schwester in mein absolutes Bewusstsein gerückt zu sein, gleichzeitig klammere ich mich an jedes neue Erlebnis in Bolivien. Eines davon ist eine kleine „Willkommen-zurück-Überraschungsparty“, die die Freiwilligen für mich veranstalten. Mit selbst gebackenem Kuchen und selbstgemachter Limonade. In diesem Moment denke ich: Das ist mein Platz, nirgendwo würde ich lieber sein.

Doch es erwartet mich auch eine Enttäuschung: im Museum ist in meiner Abwesenheit nicht viel passiert. Verabredungen wurden nicht eingehalten, die Freiwilligen waren wenig motiviert. Damit habe ich bis jetzt zu kämpfen. Noch immer kommen die Freiwilligen sehr unregelmäßig, die Aktivitäten des Museums kommen beinahe nicht zustande. Das lähmt und ängstigt mich zugleich, wogegen ich kaum angehen kann. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass ich nur noch drei Monate hier habe und diese genießen will. Auch wenn einiges nicht optimal läuft, bin ich doch glücklich. Trotz allem fesselt mich meine Arbeit sehr, ich lerne so viele wunderbare Menschen (besser) kennen, ich habe die Freiheit Dingen nachzugehen, die mich sehr erfüllen (das Gitarrespielen klappt jetzt in einer staatlichen Schule eindeutig besser).

Ich fühle mich geborgen und aus dieser unumstößlichen Wahrheit heraus möchte ich nun die Gelegenheit ergreifen, euch lieben Interessierten und Unterstützern, meinen Dank auszusprechen.

Danke, dass ihr mir das hier ermöglicht mit eurer Ermunterung, eurer Begleitung und Förderung. Ich sende euch die besten Wünsche und Grüße aus Sucre, wo der Wind mittlerweile kalt durch die Straßen fegt und die Sonne einen trotzdem verbrennt. Es wird Winter.